Spuk in der Sommernacht
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ie Nacht ist so lau, der Mond scheint so klar,
über‘n Marktplatz wandelt ein einsames Paar.
Die sonst so belebten Straßen und Gassen
liegen jetzt einsam, still und verlassen.
Kein Autogehupe, kein Marktgeschrei!
Der letzte Autobus längst vorbei.
Von St.Johannis tönt's weit in die Runde:
zwölf Schläge verkünden die Geisterstunde.


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Der letzte Schlag ist noch nicht verhallt,
da regt sich des Gänseliesels Gestalt
Vorsichtig schaut es sich um:
läuft auch kein Polizist herum?
Dann läßt es die Gänse zur Erde flattern.
Sie fliehen davon unter eifrigem Schnattern.
Denn unten im Rathskeller brennt noch der Herd,
und Gänsebraten ist immer begehrt!

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as Lieselchen aber reckt seine Glieder
und steigt ganz langsam zur Erde nieder.
Welch herrliche, milde Sommernacht!
Ja, heute wird wieder ein Bummel gemacht!
Als erstes kann es sich's nicht verkneifen:
mal eben über den Zebrastreifen!
Dann biegt es auch schon in die "Barfüßer" ein,
ist selber ja barfuß, das muß wohl so sein.
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n der nächsten Ecke, da gibt's was zu seh'n.
Die Kinobilder sind gar zu schön.
Und das Gänseliesel bestaunt voller Neid
so viel kurvenbeschmückte Weiblichkeit.
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och gleich geht's weiter die Straße entlang,
da kommen Studenten mit frohem Gesang.
,,Ein schön' guten Abend, du süße Kleine!
Bist du nicht bange so ganz alleine?"
Sie breiten die Arme, sie schwenken die Mützen!
,,Soll'n wir dich nicht ein wenig beschützen?"
Mit klopfendem Herzen entweicht das Kind.
Zum rettenden Wilhelmsplatz eilt es geschwind:
wo Wilhelm der vierte in dunkler Nacht
ein Dutzend parkender Autos bewacht.
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rüß Gott", ruft der König, ,mein liebes Mädchen,
was läufst du so spät durch das nächtliche Städtchen?"
,,Ach" , spricht das Lieselchen, ,,Majestät,
wenn man immer so still auf dem Marktplatz steht,
dann möcht' man so gerne ein wenig spazieren,
um die Orientierung nicht zu verlieren!

 

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iel Vergnügen, mein Kind,
ich kann leider nicht mit!"
Und schon ist es weiter mit schnellem Schritt,
um keinen Augenblick zu versäumen:
zum Wall mit den alten, vertrauten Bäumen.
Da tönt von der Seite ein zärtliches Flüstern,
ein Rascheln und Tuscheln,
ein Knacken und Knistern.
Das Gänseliesel bleibt stehen und lauscht,
wie ein Pärchen verliebt Küsse tauscht.
Ihm ist es ja leider versagt geblieben,
wie lebendige Menschen glücklich zu lieben.
Und seufzend wendt sich‘s wieder zum Gehn,
um sich weiter in Göttingen umzusehen.
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ar bald erreicht es das Geismartor,
da kommt ihm die Gegend verändert vor.
Hier standen doch früher zwei Löwen aus Stein!
Wo mögen die bloß geblieben sein?
Und drüben, da steht so ein riesiges Haus,
in Göttingen will man wohl hoch hinaus?
Das Liesel huscht schnell zu den Bürgeranlagen,
um Gauß und Weber ,,Gute Nacht" zu sagen.
Mit schelmischem Lächeln begrüßt es die Alten:
,,Wir Denkmäler müssen doch zusammenhalten!"
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rei Schläge hört man von Ferne: Zu dumm,
schon bald ist die Geisterstunde um!
Für diesmal ist es vorbei mit dem Bummeln.
Jetzt heißt es, sich auf den Heimweg zu Tummeln!
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ie Straßen liegen in nächtlicher Ruh.
Das Mädchen eilet dem Marktplatz zu.
Da nahen sich plötzlich drei lustige Zecher.
Der eine, der Blonde, ja das ist ein Frecher.
,,Bleib stehen," so ruft er, "du reizendes Kind!"
Das Gänseliesel, es läuft wie der Wind!
Der Bursche beeilt sich, er holt es fast ein.
Jetzt biegt es auch schon in die "Weender" hinein.
Und gleich darauf, mit gewaltigem Satz
springt's auf den Brunnen, an seinen Platz.
,,Halt, halt, so laß dich nur einmal küssen!
Das wirst du mir noch erlauben müssen!"
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n diesem Augenblick weit in die Runde
schlägt Sankt Johannis die erste Stunde.
Das Gänseliesel erstarrt bis ins Herz.
Der Bursche küßt nur das eiskalte Erz!